Benedict Wells neues Buch „Die Geschichten in uns“: Freigeschrieben (2024)

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Von: Katja Kraft

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Bestsellerautor Benedict Wells erzählt in seinem neuen Buch „Die Geschichten in uns“ sehr persönlich über das Glück der Literatur. Unser Buchtipp.

Man will sofort zu Zettel und Stift greifen. Oder in Gottes Namen auch zur Tastatur. Wobei Stift ist besser. Die Finger, die über die Tastatur fliegen, sind zu schnell, da kommt der Geist nicht mit. Vor allem: das Herz, es braucht Zeit, sich zu öffnen für das, was man lieber verdrängt. Schreiben weckt alte Erinnerungen, Gefühle, die verschüttet waren. Lange hat sich Benedict Wells nicht herangetraut. Nun tut es der Bestsellerautor mit einem Buch, das sein unverstellt persönlichstes ist.

Persönlich sind die Werke des Münchner Autors alle. Aber eben nur über Bande. Wer nun sein „Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben“ liest, der erkennt plötzlich die Parallelen zwischen Benedict Wells’ Romanfiguren und dem Autor selbst. Seine Mutter kam früh in die Psychiatrie, der Vater baute trotz Finanznöten und Insolvenz unablässig Luftschlösser. Wells kam ins Internat, nach außen taff und lustig, doch in ihm drin immer dieses Gefühl der Leere, des Verlorenseins. Klingt da nicht schon das Leben von Jules in Wells’ Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ an? Und ist das Chaos, das der heute 40-Jährige erlebt, wenn er als junger Kerl in den Internatsferien heimkommt, nicht ähnlich wie bei Sam in „Hard Land“?

Dies soll kein Roman sein, betont Benedict Wells, auf dessen nächsten Roman seine Fans doch so ungeduldig warten. „Dieses Buch ist der gescheiterte Versuch, erst mal kein Buch mehr zu schreiben.“ Tatsächlich ist es eine intime Auseinandersetzung mit der Frage, was ihn einst zum Schreiben gebracht hat, warum er drangeblieben ist, sich allen Misserfolgen zum Trotz durchgebissen hat. Wer seine schriftstellerischen Vorbilder, was prägende Momente waren. Und es ist eine äußerst lesenswerte Ermunterung dazu, die eigene Stimme zu finden. Hinzuhören, was das Innen sagt, wenn das Außen schreit. „Meine äußere Stimme war auf maximale Lautstärke gedreht, die innere nicht mal an (schon auf die simple Frage ,Wie geht’s dir?‘ hätte ich hunderte Antworten geben können, alle wären falsch gewesen.)“

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Nicht umsonst setzt Wells dem Buch Ludwig Wittgensteins bekanntes Zitat voran: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ Wenn man keine Worte für seine tieferen Gefühle hat – empfindet man sie überhaupt? „Weiß ich denn wirklich, wer ich bin, oder bleibe ich mir ein Schatten?“ Zusammen mit ihm gehen wir zurück in sein Kinderzimmer, sehen den fünfjährigen Benedict mit seinem Stoffschneetiger im Bettchen liegen. Ein Bub, der noch nichts weiß von dem Chaos, das bald daheim ausbricht. Und der später verstehen wird, dass „Lesen einen in manchen Momenten retten kann“. Und schreiben. Schreiben als Verarbeiten von Traurigkeit, Wut, Sehnsucht. Schreiben als Stärkung des Selbstbewusstseins. „Beim Schreiben war ich plötzlich mutig, beflügelt von einem durch nichts gerechtfertigten Zutrauen, jedes Problem lösen zu können.“ Es war für ihn das, was für seinen Jugendhelden Peter Parker das Spider-Man-Kostüm war: eine Chance, ein anderer zu sein.

Wie Doris Dörries „Leben. Schreiben. Atmen“ ist dieses Buch keine trockene Schreibwerkstatt – und inspiriert gerade deshalb so sehr dazu, selbst sofort loslegen zu wollen. Weil Wells beherzigt, was ihn Stephen King gelehrt hat – und was er in der Pubertät, in der er seine Lehrerinnen und Lehrer mit besonders ausgefallenen Fremdwörtern und Satzkonstruktionen beeindrucken wollte, fast vergessen hätte. „Als Stephen King schrieb, man solle nicht ,Vergütung‘ verwenden, wenn auch ,Trinkgeld‘ gehe, meinte er mich.“ Das Formulieren einfacher Sätze – es ist das Schwierigste.

John Irvings „Das Hotel New Hampshire“ hat Benedict Wells verändert

Jetzt scheinen die klaren Sätze, die starken Bilder, das Einfangen tiefer Gefühle ohne jeden Anflug von Pathos in unvergesslichen Formulierungen nur so aus ihm herauszufließen. Wenn Benedict Wells seine Internatszeit beschreibt: „Man steckte ein, teilte aus und machte den fiesesten Spruch über sich selbst, bevor es jemand anderes tun konnte“, breitet er en passant ganze psychologische Seekarten aus, in denen sich jeder sogleich zurechtfindet, der das raue Gewässer, das sich Pubertät nennt, schon durchschifft hat. Oder diese poetische Beschreibung der magischen, bittersüßen Jugendtage: „Jede Woche konnte nichts und alles passieren, und dazwischen wurden wir ohne es zu bemerken groß.“

So schreiben können, das wär’s. Dabei hat Benedict Wells lange Zeit nicht an sich und sein schriftstellerisches Talent geglaubt. Hat gedacht, dass andere eh viel besser seien, dass es nix wird mit der Autorenkarriere. Hätte selbst als Lesender die Literatur in den fiesen ersten Teenagerjahren fast völlig vergessen. Dann das Erweckungserlebnis: John Irvings „Das Hotel New Hampshire“. „Ich meine es todernst: Kein Mensch kann von einem Buch mehr umgehauen worden sein als ich mit fünfzehn von ,Das Hotel New Hampshire‘.“ Neu entfachte Liebe, und die Erkenntnis: Große Literatur kann auch rau und derb und lustig sein. Nicht wie die Bücher, die er in der Schule lesen musste, fast ausnahmslos verfasst von männlichen Autoren, die „mit ihren Tweedsakkos, kantigen Brillen und Pfeifen wie Schauspieler wirkten, die Schriftsteller spielten“.

Dann Benjamin Leberts „Crazy“ – mit 17 schon ein Buch schreiben, das geht? Es war der mutmachende Stupser auf Benedict Wells’ Weg hin zu seinem eigenen großen literarischen Werk. Wer verstehen möchte, wie es entstanden ist, der lese „Die Geschichten in uns“. Und schnappe sich danach Zettel und Stift. Die eigene Stimme hat so viel zu ㈠erzählen. Hören wir hin. Benedict Wells: „Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben“. Diogenes Verlag, Zürich, 400 Seiten; 26 Euro.

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FAQs

Ist Benedict Wells mit Ferdinand von Schirach verwandt? ›

Der Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach ist sein Cousin, ebenso dessen Bruder Norris von Schirach. Um sich von der Vergangenheit seiner Familie zu distanzieren und eigenständig aufzutreten, ließ Wells seinen bürgerlichen Namen nach seiner Schulzeit amtlich ändern.

Ist Ferdinand von Schirach noch Anwalt? ›

Ferdinand von Schirach wurde 1964 in München geboren. Von 1987 bis 1991 studierte er Rechtswissenschaften in Bonn und absolvierte danach sein Referendariat an Gerichten in Köln und Berlin. Ab 1994 arbeitete er als Anwalt und Strafverteidiger in Berlin, wo er bis heute lebt.

Ist Ariadne von Schirach die Tochter von Ferdinand von Schirach? ›

Schirach ist die Tochter des Schriftstellers Richard von Schirach und Enkelin des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach und der Schriftstellerin Henriette von Schirach. Sie ist die Schwester des Schriftstellers Benedict Wells und die Cousine des Strafverteidigers und Schriftstellers Ferdinand von Schirach.

Sind Richard und Ferdinand von Schirach verwandt? ›

Sein Neffe ist der Schriftsteller und Jurist Ferdinand von Schirach. Sein Großvater mütterlicherseits war der durch die Fotografien Adolf Hitlers bekannt gewordene NS-Fotograf Heinrich Hoffmann.

Sind Norris und Ferdinand von Schirach verwandt? ›

Seinen ersten Roman "Blasse Helden" veröffentlichte Norris von Schirach noch unter dem Pseudonym Arthur Isarin. Auch mit dem zweiten Roman "Beutezeit" muss er sich nicht hinter dem jüngeren Bruder Ferdinand von Schirach bzw. der Cousine Ariadne von Schirach und dem Cousin Benedict Wells verstecken.

Hat Ferdinand von Schirach Familie? ›

Schirach ist Sohn des Münchner Druckereikaufmanns Robert von Schirach (1938–1980) und Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach und dessen Ehefrau Henriette sowie Neffe des Sinologen Richard von Schirach.

Ist Ferdinand von Schirach Raucher? ›

FO TO S : M AR C -S TE FF EN U N G ER (L I.) ; W ER N ER S C H U ER IN G / IM AG ET R U S T (R E.) Schirach, 51, ist Schriftsteller und Kettenraucher.

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